Die ersten Seiten aus dem Buch:

1

Regula Weber kehrte vollkommen aufgelöst von Doktor Kunz, ihrem Magen-Darm-Spezialisten, nach Hause zurück. Ihr war schwindelig, und sie musste sich zuerst mit einem Glas kalten Wasser an den Küchentisch setzen. Schon seit längerer Zeit verspürte sie starke Schmerzen im Oberbauch, ihr war übel und sie hatte keinen Appetit mehr. Darum hatte sie sich vor ein paar Wochen einer Reihe von Untersuchungen unterzogen. Heute Morgen, als der Arzt sie dringend zu sich bestellt hatte, beschlich sie wieder dieses ungute Gefühl. Nun hatte sie Klarheit, sie litt unter einem Zystadenom in der Bauchspeicheldrüse. Der Tumor schien zwar gutartig und operabel zu sein, und ihr Arzt prognostizierte ihr gute Heilungschancen. Dennoch sass der Schock tief, und sie musste sich erst mal hinlegen und ihre Gedanken ordnen.

 

Regula beschloss, noch ein paar Informationen über das weitere Vorgehen von Doktor Kunz einzuholen, die sie in ihrer Verzweiflung im ersten Moment gar nicht hatte hören wollen. Albano, ihren Mann, wollte sie noch nicht einweihen, bevor sie alles Nötige beisammenhatte. Er wollte heute ohnehin den ganzen Tag mit seinem Freund Balthasar Lüthi, genannt Balz, verbringen. Sie planten unter anderem einen Besuch im Zuger Kunsthaus, wo sie die Projektsammlung des dänischen-isländischen Künstlers Olafur Eliasson ansehen wollten. Auch ihre drei Kinder wollte sie noch nicht unnötig ängstigen.

 

Edith, die älteste Tochter, war vierzig und lebte schon seit vielen Jahren als Krankenschwester in Indien. Sie war schon immer ihren eigenen Weg gegangen. Nach einer Indienreise, die sie auch in einen Aschram und viele Elendsviertel geführt hatte, fand sie den Ort ihrer Bestimmung. Ihre jüngere Schwester Laura war sehr reisefreudig und hielt sich mit ihren siebenundzwanzig Jahren gerade im Rahmen eines Studienaufenthaltes in Dänemark auf. Sie war lebensfroh und sah die Dinge oft nicht so ernst. An Verehrern mangelte es ihr nicht, und sie war ohnehin nicht lange vom selben angetan.

 

Dann war da noch Rolf, der einzige Sohn, beruflich sehr erfolgreich. Mit seinen achtunddreissig Jahren hatte er schon eine Führungsposition im CERN inne, und er wohnte in Genf. Nur über sein Privatleben wussten die Eltern nicht viel. Weilte er zu Besuch, hielt er sich bei den häufig aufkommenden Nachfragen bezüglich einer Partnerin sehr bedeckt. Doch ansonsten pflegte er eine enge Verbindung zu seinen Eltern und war stets zur Stelle, wenn sie seine Hilfe benötigten oder es etwas zu feiern gab.

 

Bei diesen Gedanken wurde Regula warm ums Herz, ihr gesundheitlicher Tiefschlag schien in diesem Moment nicht mehr so schlimm. Sie fühlte sich geborgen und war zuversichtlich, wieder gesund zu werden. Ihre Familie würde sie in ausnahmslos jeder Weise bei allen kommenden Herausforderungen unterstützen. Regula war stolz auf jedes ihrer Kinder, und sie hatte gemeinsam mit ihrem Mann auch viel erreicht in ihrem Leben. Nicht immer war es leicht mit ihm. Die Damen dieser Welt hatten ihn auch nach der Heirat nicht kaltgelassen, er blieb in dieser Beziehung ein unverbesserlicher Luftikus. Immer wieder bat er tief betreten und reumütig um Verzeihung, wenn ihm Regula auf die Schliche gekommen war. All die grossen und kleinen Verletzungen schürten ein niemals ruhen wollendes Misstrauen, gegen das sie nicht ankam, auch wenn es augenscheinlich keinen Grund gab. Oft schon hatte sie sich überlegt, ob sie ihren Mann das nicht zu sehr spüren liess und ihn gerade dadurch wieder in die Arme einer unbeschwerten Geliebten getrieben hatte, wovor sie sich am meisten fürchtete. Doch letztlich konnte sie seinem herzerweichenden Hundeblick nicht widerstehen und hoffte jedes Mal, er meinte es ehrlich, wenn er ihr seine Liebe gestand und beteuerte, keine Frau ausser ihr hätte ihm jemals etwas bedeutet. Früher war sie vor allem wegen der Kinder in diesem emotionalen Teufelskreis steckengeblieben. Albano war ein liebevoller Vater und ansonsten zuverlässiger Partner, der seiner Familie alles Erdenkliche zu ermöglichen versuchte. Mit den Kindern besuchten sie viele Orte dieser Welt. Deren Fähigkeiten und Interessen entsprechend, eröffneten sie ihnen jeden Bildungsweg und liessen ihnen so manche Freizeitbeschäftigung. Das war gar nicht immer so einfach gewesen, da Regula wegen der Kinder nur stundenweise als Sprechstundenhilfe arbeiten konnte. Albano hatte die unstete Karriere eines forschenden Wissenschaftlers eingeschlagen, bis er nach mühevollen Jahren endlich eine unbefristete Dozentur ergattern konnte. Nun, im Ruhestand, genossen sie das Leben zu zweit, sie reisten viel, liessen es sich wohl ergehen, gingen oft gut essen, ins Theater, in die Oper, zu kulturellen Veranstaltungen oder luden Freunde zu schönen gemeinsamen Abenden ein.

 

Mit einem Lächeln auf den Lippen war Regula gerade wohlig eingedöst, als sie durch das Klingeln an der Haustür aufgeschreckt wurde. Sie überlegte kurz, ob sie nicht einfach liegen bleiben sollte, entschied sich aber nach dem zweiten Klingeln aufzustehen.

 

Vor der Tür stand eine junge blonde Frau. Sie lächelte und fragte:

,,Sind Sie Frau Weber?“

Regula entgegnete freundlich: „Ja, das bin ich.“

Die Frau sprach Schweizerdeutsch, mit einem amerikanischen Akzent.

„Wohnt hier ein Albano Weber?“

„Ja, das ist mein Mann. Im Moment ist er nicht zu Hause, aber kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen oder ihm etwas ausrichten?“, antwortete Regula.

„Ja, wenn Sie einen Moment Zeit hätten. Ich würde Ihnen gerne etwas erklären.“

Regula zögerte, dann liess sie die fremde Frau eintreten und auf dem Sofa Platz nehmen. Sie ahnte nichts Gutes.

„Ich bin Susan, Susan Carter. Aufgrund von Recherchen habe ich herausgefunden, dass Albano Weber mein Vater ist.“

„Da muss doch sicher ein Missverständnis vorliegen.“

„Ich war gestern auf der Einwohnerkontrolle Zug, hier sehen Sie die Bestätigung.“

 

Regula warf einen Blick auf das Dokument und sah das Geburtsdatum ihres Mannes. Ihr Gesicht wurde noch blasser, als sie auch noch feststellte, dass Susan ungefähr im gleichen Alter war wie Laura. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht mit dem. Tausend Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf.

 

Die beiden Frauen sassen sich unbeholfen gegenüber und wussten nicht recht, wie das Gespräch weitergehen sollte. Schliesslich bot Regula der jungen Frau etwas zu trinken an. Aschfahl und kraftlos schaffte sie den Weg in die Küche. Susan hörte, wie sich die Kaffeemaschine in Gang setzte. Sie sah sich um und betrachtete die farbigen Bilder an der Wand, die schönen Möbel, die altrosa Vorhänge und den grossen Kamin. Auf einem Sideboard erblickte sie ein Foto, eine strahlende Familie, Eltern und drei Kinder.

 

„Ihre Familie?“, wollte Susan wissen, als Regula mit zwei Tassen Kaffee zurückkam. Sie realisierte zu spät, dass diese Frage völlig unnötig und ungeschickt war. Regula stellte wortlos die Tassen auf den Salontisch und bat in gefasstem Ton ihren Gast um einen ausführlichen Bericht. Susan machte einen unsicheren Eindruck, offensichtlich war es ihr höchst unangenehm.

 

„Also“, fing sie an, „meine Mutter hiess Sofia Suter, bevor sie heiratete und ihren jetzigen Namen, Carter, annahm.“

Regula atmete bemüht flach, zog lediglich die Augenbraue hoch, um anzudeuten, Susan möge weitersprechen.

„Sagt Ihnen der Name Sofia Suter wirklich nichts?“

 

Regula überlegte einen Moment und verneinte. Sie hatte sich irgendwann nicht mehr die Mühe gemacht, allzu viele Informationen über die Gespielinnen ihres Mannes zu sammeln. Deren Existenz nur schon zu erahnen war ihr unerträglich, setzte den Stachel aufs Neue schmerzvoll genug. In jungen Jahren hatte sie versucht herauszufinden, was ihren Mann an all diesen anderen Frauen faszinierte, was sie hatten, das sie nicht hatte, aber es gab kein spezielles Beuteschema. Der Reiz schien in der Eroberung, im Neuen, Unbekannten zu liegen. Oder flüchtete sich Albano aus dem familiären Alltag, an dem er dennoch immer festhielt wie ein Sultan, der sich einen Harem hält, ohne seine Erstfrau aufzugeben? Irgendwann hatte Regula das schicksalsergeben akzeptiert. Sie liebte ihren Mann und hing an ihm, obwohl er ihr diese Schmach immer wieder antat.

 

„Meine Mutter war eine Studentin ihres Mannes. Die beiden hatten eine Liaison, und er schwängerte sie“, sagte Susan leise.

 

Nun rang Regula doch um ihre Fassung, das konnte einfach alles nicht wahr sein. Sie hatte immer gehofft, die amouröse Vergangenheit ihres Mannes hinter sich zu lassen, das Leben zu zweit zu geniessen, ihn nach all den Jahren endlich ganz für sich haben. Das war einfach zu viel, all die verletzenden Situationen früherer Jahre stiegen wieder in ihr hoch. Regula war verzweifelt und konnte doch zugleich verstehen, dass das Mädchen seinen Vater kennenlernen wollte – ein Wunder, dass das nicht schon früher geschehen war. Ihr konnte sie keinen Vorwurf machen. Tränen rannten über Regulas Wangen, und sie schluchzte. Ihr wohlbehütetes Familienkonstrukt war in seinen Grundfesten erschüttert.

 

Das schrille Läuten des Telefons riss die beiden Frauen aus ihren Gedanken. Regula sah auf dem Display, dass es Balz war. Merkwürdigerweise rief er von zu Hause aus an. Sie hatte wieder dieses dumpfe Bauchgefühl wie früher, spürte schon die neuerliche Enttäuschung in sich aufsteigen, den Kloss in ihrem Hals. Ganz gleich, was dieser Anruf bringen mochte, er bedeutete auf jeden Fall, die beiden Männer waren nicht dabei, den Tag gemeinsam im Kunsthaus Zug zu verbringen. Albano hatte sie wieder angelogen. Es würde niemals aufhören, niemals, er würde sie immer wieder hintergehen, und wenn er sich die Damen eines Tages würde kaufen müssen. Auf alles gefasst, hob sie ab.

 

„Hallo Regula, wie geht’s?“, fragte Balz gutgelaunt und nichtsahnend.

„Balz, wo bist du?“, keifte sie den Anrufenden beinahe an.

„Zu Hause, warum? Ist etwas nicht in Ordnung?“ Diese Frage blieb unbeantwortet. Balz spürte, dass Regula nicht in der Stimmung war, sich mit ihm zu unterhalten, und kam sogleich zum Punkt.

„Ist Albano zu Hause?“

Regulas ohnehin hoher Adrenalinspiegel schnellte noch mehr in die Höhe und sie antwortete deutlich gereizt: „Er ist mit dir zusammen, im Kunsthaus!“

,,Mit mir im Kunsthaus? Ich bin zu Hause.“

 

Regula nahm das Telefon, ging ins Schlafzimmer und setzte sich aufs Bett.

 

„Regula, bist du noch dran?“

„Ja, ich bin noch da. Soll ich ihm etwas ausrichten?“

„Nein, aber was ist mit dem Kunsthaus? Ich verstehe nicht.“

„Ach Balz, vergiss es. Ich nehme an, dass er heute Abend zum Kochkurs kommt.“ Regula verabschiedete sich kurz angebunden und blieb wie erstarrt, mit pochendem Herzen, auf dem Bett sitzen. Heute war zweifellos ein schwarzer Tag in ihrem Leben. Erst am Morgen die Diagnose über den Tumor, mittags mal eben schnell die Erkenntnis, dass die Untreue ihres Mannes nicht folgenlos geblieben war, und die Frage, wie man nun mit der jungen Dame zukünftig umgehen würde. Was ihre Existenz überhaupt für die Familie, für sie als Ehepaar bedeutete. Und als Sahnehäubchen dann noch dieser Anruf von Balz! Regula war ausser sich, dieser unsägliche Mann kostete sie mit Sicherheit Jahre ihres Lebens, wenn sie jetzt nicht endlich die Notbremse zog. Sie hatte immer alles versucht, um eine liebevolle, harmonische Ehe zu führen, alles hatte sie gegeben, selbst sich hatte sie aufgegeben! Bevor sie diesen Gedanken weiter verfolgen konnte, fiel ihr ein, dass im Wohnzimmer nebenan ja noch immer die Tochter ihres Mannes sass. Regula trocknete sich die Augen und murmelte eine kurze Entschuldigung als sie zu Susan zurückkam.

 

„Es tut mir leid. Das ist heute alles etwas viel für mich.“

 

Albano hatte also ein Kind mit einer anderen Frau. Wie oft hatte er ihr hoch und heilig versprochen, nun würde alles anders, sie wollten noch einmal neu anfangen, all den Schmerz hinter sich lassen. Und sie hatte ihm immer geglaubt, er war immer so liebevoll und aufmerksam. Natürlich wurde er irgendwann wieder schwach, aber ausgerechnet als sie schwanger war! Das war nun doch zu viel des Unzumutbaren. Regula begann laut zu schluchzen. Susan setzte sich neben sie und nahm sie in den Arm. Regula liess es geschehen, sie fühlte sich hilflos und schutzbedürftig.

 

„Kann ich etwas für Sie tun, Frau Weber?“, fragte Susan.

 

„Danke, nein. Bitte lassen Sie mich jetzt allein.“ Da auch die junge Frau den Tränen nahe schien, ergänzte sie: ,,Ich weiss, für Sie muss die Situation auch nicht einfach sein, und es war bestimmt nicht leicht für Sie hierherzukommen, ohne zu wissen, wer oder was Sie hier erwartet und wie Sie aufgenommen werden. Vielleicht wollen Sie Ihre Kontaktdaten hierlassen.“

 

Susan nickte dankbar, zog eine Visitenkarte aus ihrem Portemonnaie, legte sie auf den Wohnzimmertisch und gab Regula zum Abschied die Hand.

 

Diese blieb regungslos auf der Couch sitzen, in ihrem Kopf drehte sich alles. Sie musste dringend raus hier, Abstand von ihrem Leben gewinnen, sich sammeln, die Ereignisse sortieren, und dabei konnte sie ihren Mann nun am allerwenigsten gebrauchen. Vermutlich würde er nach dem abendlichen Kochkurs nach Hause kommen, sie scheinheilig in den Arm nehmen, penibel darauf geachtet haben, keine Spuren seiner aktuellen Liebschaft mit sich zu bringen, obwohl er genau wusste, dass sie jedes Mal an der kleinsten Veränderung, an seinem Geruch, seinem Haar, seinem Blick das Unsägliche wahrnahm. Dann die hilflosen Ausflüchte, Erklärungsversuche, wenn sie ihm von Balz‘ Anruf erzählen, ihn stellen würde, womöglich ein paar Blumen. Eine kleine Aufmerksamkeit, einfach so – das wäre jetzt noch der Gipfel! Sie würde vollkommen ausrasten oder zusammenbrechen, auf jeden Fall ihr mittlerweile ohnehin sehr schwaches Nervenkostüm aufreiben. Sie ertrug noch nicht einmal den Gedanken an all das, und dann noch die Konfrontation mit der Existenz seiner Tochter. Womöglich wusste er davon und hatte es ihr all die Jahre verschwiegen, dieser Sofia Suter allmonatlich Alimente bezahlt. Wer wusste das schon? Regula hielt nichts mehr für unmöglich, sie wusste nur, sie brauchte jetzt Ruhe. Die wollte sie sich ein paar Tage gönnen, um wieder ganz zu sich zu finden und über so vieles nachzudenken. Kurz entschlossen rief sie im City-Reisebüro an, über das Albano und sie seit Jahren ihre zahlreichen Reisen buchten. Der freundliche junge Mann hatte ein Fünf-Sterne-Wellness-Hotel in Lugano im Angebot, Zugfahrt inklusive, und das Beste war, es könnte noch heute Abend losgehen. Das wäre genau das Richtige, dachte sich Regula. In der wunderschönen Landschaft rund um den Luganer See würde sie zu sich finden und ihrer geschundenen Seele Gutes tun. So überlegte sie nicht lange und buchte einen einwöchigen Aufenthalt. Anschliessend packte sie ihre Koffer, fest entschlossen, einen Weg zu finden, mit allem umzugehen. Susans Visitenkarte steckte sie vorsorglich ein, auch darüber wollte sie noch einmal in Ruhe nachdenken, bevor in der Familie während ihrer Abwesenheit ein Chaos losbrechen könnte. Ohne eine Nachricht zu hinterlassen, verliess Regula kurz nach Einbruch der herbstlich kühlen Dunkelheit das Haus. Konnte sich auch um sie einmal Sorgen machen, wer wollte. Vielleicht würde Albano auf diese Weise endlich aufgerüttelt, wenn er sah, was er anrichtete und dass er sie noch immer verlieren konnte.

 

2

 

Albano und Balz waren seit Jahrzehnten befreundet. Sie teilten viel in ihrem Leben: die Schule, das Schachspiel und später ihre Schlaflosigkeit. Albano war in guten Verhältnissen aufgewachsen, sein Vater besass eine florierende Import- und Export-Firma, die er geerbt und gewinnbringend veräussert hatte. Nach der Matura nahm Albano begeistert ein Philosophiestudium auf, promovierte anschliessend und erlangte nach vielen aufopferungsvollen Jahren der Forschung und wissenschaftlicher Assistenz endlich eine finanziell abgesicherte Position als Universitätsprofessor. Nebenbei engagierte er sich in verschiedenen Vereinen und Verbindungen. Mit 27 hatte er Regula geheiratet, die nur ein Jahr jünger war als er. Vom Charakter her war er aufgeschlossen, humorvoll und verfügte über eine optimistische Lebenseinstellung. Er besass die Fähigkeit, auf andere Leute zuzugehen und sie zu begeistern. Kurz: Mit ihm konnte man Pferde stehlen. Mit seiner Schwester Matthäa, die drei Jahre jünger war, pflegte er ein gutes Verhältnis. Diese wohnte im Berner Seeland, war glücklich verheiratet und hatte sechs Enkelkinder.

 

Charakterlich gesehen, war sein Freund Balz das pure Gegenteil. Introvertiert, humorlos und ohne jegliche Ausstrahlung. Freunde hatte er wenige, von einer Frau ganz zu schweigen. Er interessierte sich für Kunst- und Kulturwissenschaften. Der Film hatte es ihm besonders angetan. Schon als Jugendlicher kannte er alle Oscar-Preisträger ab 1929, dem Jahr, in dem der kleine Goldmann zum ersten Mal vergeben wurde. Nach einem abgebrochenen Germanistikstudium ging er nach München und schrieb sich an der Filmakademie ein. Schliesslich hatte er es zu einem angesehenen Filmexperten gebracht.

 

„Balz, vergiss nicht, ich bin eine Woche älter als du. Ich habe mehr Lebenserfahrung“, spottete Albano ab und zu, aber Balz beeindruckte das nicht.

 

Die beiden hatten einen gemeinsamen Freund, Ernst Bösch, den sie von der Militärzeit her kannten.

 

Albano und Balz waren in Pension, Ernst stand kurz davor. Schon vor Längerem hatten sie beschlossen, einen Teil ihrer Freizeit gemeinsam zu verbringen. Da jeder von ihnen unterschiedlichen Hobbys nachging, und alle sehr gern gut assen, einigten sie sich auf einen Kochkurs, der zweimal pro Woche stattfinden sollte. Die Kursleiterin, Frau Witschi, dunkelhaarig und gutaussehend, trug mit ihren Kochkünsten und ihrer frischen, fröhlichen Art dazu bei, den Kursabenden eine familiäre und entspannte Atmosphäre zu verleihen.

 

Heute war der dritte Abend, und die Männer beschlossen, nach dem Kurs noch ins gegenüber dem Kochatelier gelegene Restaurant ,,Bären” auf einen Absacker einzukehren. Frau Witschi hatte das beim abschliessenden Abwasch mitbekommen und charmant gefragt, ob sie sich vielleicht zu ihnen gesellen dürfe.

 

„Gerne“, hatten die drei Männer fast wie aus einem Munde geantwortet.

Kaum hatte sich das Grüppchen in der Gaststube eingefunden, sprudelte aus Albano schon die erste Frage:

„Wo haben Sie denn Ihre exzellenten Kochkünste her, Frau Witschi?“

„Ich bin gelernte Köchin. Mein Bruder besitzt ein Restaurant in Luzern, wo ich viele Jahre gearbeitet habe. Aber sagen Sie, wie gefällt Ihnen denn eigentlich unser Kochkurs?“

 

Die drei Freunde bekundeten einstimmig ihre Zufriedenheit sowie ihr Interesse und ihre Vorfreude auf die bevorstehenden kulinarischen Erlebnisse. Anschliessend stellte man sich gegenseitig etwas ausführlicher vor. Auch hier ergriff Albano als Erster das Wort, berichtete von seiner Familie, von seinen Kindern, was diese arbeiteten und wo sie lebten.

 

Ernst wollte da nicht hinten anstehen und beeilte sich mitzuteilen:

„Ich bin Banker, auch verheiratet und habe zwei Kinder, Silvia und Stefan.“

Als Letzter meldete sich, wohl oder übel, Balz zu Wort:

„Und ich bin nicht verheiratet, leider oder zum Glück, wie man’s nimmt. Ich finde übrigens, Sie haben grosse Ähnlichkeit mit dem Hollywoodstar Selma Hayek, wenn ich das so sagen darf.“

 

Frau Witschi wirkte geschmeichelt, liess die Bemerkung jedoch kommentarlos und nickte nur anerkennend. Man plauderte noch über dieses und jenes, die Zeit flog dahin, bis es eine Stunde vor Mitternacht war und Frau Witschi der Kellnerin winkte. Sie zahlte ihren Kaffee und verabschiedete sich, obwohl ihre drei Kochschüler sich redlich Mühe gaben, sie aufzuhalten.

 

„Bis zum nächsten Mal“, lächelte sie den Herren zu, die ihr ganz verzückt hinterherblickten, während sie beschwingten Schrittes das Lokal verliess.

 

Eine halbe Stunde später brachen auch sie auf, und jeder ging seines Weges.

 

Albano fühlte sich nach der Kochstunde immer gut, bereichert und entspannt. An diesem Abend summte er auf dem Heimweg gar leise vor sich hin, während er die Anhöhe des Rosenberg Quartiers erklomm. Hier bewohnte er mit Regula ein schönes freistehendes Haus mit einer atemberaubenden Sicht auf die Stadt Zug und den See. In einem Fenster sah er ein rötliches Licht leuchten. Es erinnerte ihn an die Stadtzuger Tradition des Chröpfelimeh. Kostümierte Sängergruppen ziehen jeweils am Sonntag nach Aschermittwoch durch die Stadt und bringen an jedem Haus, in dessen Fenster ein rotes Licht leuchtet, ein Ständchen. Das rote Licht bedeutet, dass in diesem Haus ein Paar wohnt, das entweder im letzten Jahr geheiratet hat oder in Bälde heiraten wird. Im Gegenzug erhielt die Gruppe in einem Korb Krapfen, also Chröpfeli, nach denen diese Tradition benannt ist, und Wein. Mehr als zweihunderfünfzig Jahre alt ist der Brauch.. Es hatte Albano immer Freude bereitet, diese alte Tradition, die inzwischen von der Zunft der Schneider, Tuchscherer und Gewerbsleute hochgehalten wird, aufleben zu lassen. Auch dieses Jahr wollte Albano sich wieder an der Planung beteiligen. Seit über zehn Jahren war er festes Mitglied der Gruppe, die sich um alles kümmerte.

 

Albano freute sich, nach Hause zu kommen. Regula schlief sicher schon. Sie war eine, die gerne früh zu Bett ging und morgens auch wieder beizeiten aus den Federn stieg. Am nächsten Morgen wollte er seiner Frau aber unbedingt erzählen, was er alles im Kochkurs gelernt hatte und wie nett sie anschliessend noch beisammengesessen hatten. Doch dann beschloss er, Frau Witschi nicht zu erwähnen. Über die Jahre war Regula extrem misstrauisch geworden und wurde hellhörig, sobald er nur den Namen einer ihr unbekannten Frau erwähnte. Einerseits konnte er das gut nachvollziehen. Hatte er ihr doch in all den Jahren ihrer Ehe nicht wenig zugemutet, sich oft nicht im Griff gehabt, wenn er einer hübschen Frau über den Weg lief. Andererseits machte ihm dieses ständige unterschwellige Misstrauen auch schwer zu schaffen. Er war sich nicht sicher, ob er diesen Zustand jemals würde ändern können, obwohl er doch schon seit längerer Zeit keiner anderen Frau mehr seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Er war mit zunehmendem Alter etwas ruhiger geworden und hatte sich auf die Zweisamkeit mit Regula besonnen. Albano verspürte eine wohlige, weinselige Müdigkeit, als er am Gartentor ankam. Im Schlafzimmer sah er noch Licht. Das war eher unüblich. Sein Hund Bacchus, nach seinem Lieblingsgott benannt, begrüsste ihn herzlich. Sachte betrat er das Schlafzimmer, in der Annahme, Regula schliefe schon und hätte vergessen, das Licht zu löschen. Aber seine Frau war nicht im Bett, auch nicht in ihrem Arbeitszimmer. Sie war gar nicht zu Hause. Nanu? Das war eigenartig, denn üblicherweise hinterliess Regula eine Nachricht, wenn sie länger ausblieb. Albano war irritiert, aber da er wusste, sie hätte ihm auf jeden Fall Bescheid gesagt, ihn angerufen oder auf die Mailbox gesprochen, wenn etwas Unerwartetes in der Familie geschehen wäre, machte er sich keine weiteren Gedanken. Vermutlich hatte sie es einfach eilig gehabt, sonst hätte sie doch das Licht nicht brennen lassen. Regula würde sicher bald kommen und neben ihm liegen, wenn er aufwachte.

 

Gegen acht Uhr weckte ihn das schrille Läuten des Telefons im Wohnzimmer. Schlaftrunken wurde Albano gewahr, dass die Betthälfte neben ihm unberührt war. Das beunruhigte ihn zutiefst. Regula war also die ganze Nacht über nicht nach Hause gekommen? Das hatte es schon jahrelang nicht mehr gegeben! Während er nach nebenan ging, um den Hörer abzuheben, stellte er fest, dass er auch keine Nachricht auf seinem Handy hatte. Auf dem Display des Festnetzanschlusses sah er, dass Nicole, Regulas beste Freundin, anrief:

 

„Nicole, guten Morgen! Du, das ist grad gut, dass du anrufst. Sag mal, ist Regula bei dir?“, fragte er aufgewühlt.